„Neuerfindung“ von Nachkriegssiedlungen in Hamburg – Dialog oder Fachdiskurs?
Die mit der Jahrestagung des Europäischen Instituts für Urbanistik an der Bauhaus Universität Weimar kombinierte Tagung zum Jahrbuch Stadterneuerung am 28./29. November 2024 befasste sich mit dem Thema „Zivilgesellschaftliches Engagement und Stadterneuerung“. Aus diversen fachlichen Perspektiven wurden Rolle, Handlungsrahmen und Überforderung von Zivilgesellschaft im Kontext aktueller Herausforderungen für die Stadterneuerung diskutiert. Verena Gernert, freie Stadtplanerin, und Mone Böcker, TOLLERORT, trugen auf der Tagung gemeinsam aus den Verfahren zur Weiterentwicklung des Stadtraums Horner Geest im Bezirk Hamburg-Mitte vor. Die Frage war: „Neuerfindung“ von Nachkriegssiedlungen in Hamburg – Dialog oder Fachdiskurs?“
Im Zeitraum von 2019 bis 2021 gestaltete TOLLERORT die Öffentlichkeitsbeteiligung für das Werkstattverfahren „Zukunftsbild Stadtraum Horner Geest 2030“ in Kooperation mit D&K drost consult im Auftrag der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen sowie des Bezirksamts Hamburg-Mitte. Fünf interdisziplinäre Planungsteams erarbeiteten jeweils Entwürfe für die künftige städtebauliche und freiräumliche Entwicklung der Horner Geest. Vorgegeben war eine erhebliche wohnbauliche Verdichtung des Stadtraums um mehr als 3.000 Wohneinheiten im Zusammenhang mit der bereits laufenden Verlängerung der U-Bahnlinie in den Stadtteil.
TOLLERORT konzipierte und realisierte vielfältige Angebote zur Beteiligung der Öffentlichkeit unter Berücksichtigung unterschiedlicher Zielgruppen und den Einschränkungen der Corona-Pandemie. Trotz des komplexen Planungsauftrags gelang es, etwa im Rahmen regelmäßiger Ausstellungen, Beteiligten die in Ideenskizzen und Entwürfen angelegten Visionen zu vermitteln, Anregungen und Feedback einzuholen. Dem großen Anliegen eines behutsamen Umgangs mit dem Bestand trug das Beurteilungsgremium mit der Auswahl des Entwurfs des Teams von Vandkunsten für die anschließende Rahmenplanung Rechnung.
Begleitend zur Rahmenplanung Horner Geest 2040 konzipierte und realisierte TOLLERORT in den Jahren 2022 bis 2023 – glücklicherweise unter weniger starken pandemiebedingten Einschränkungen – mehr aufsuchende und zielgruppenspezifische Formate. Bei Zufallsbegegnungen im Stadtraum wurden Passant:innen vor ihrer Haustür angesprochen und befragt. 20 Jugendliche sprachen im Park am Horner Moor über ihr Freizeitverhalten in Grün- und Freiräumen. Bei Rundgängen und Rundfahrten mit Beteiligung des Planungsteams wurden ortsspezifische Perspektiven auf Quartiersebene eingeholt.
Das Ergebnis der Rahmenplanung Horner Geest 2040 mit einer Beschreibung des Beteiligungsverfahrens liegt seit kurzem in Form einer Broschüre vor, die in Kürze auch digital erscheinen soll.
Trotz des Abstraktionsgrades der großmaßstäblichen Planung und des langen Planungshorizonts ist es gelungen, einem Dialog zwischen Beteiligten und Fachplanung Raum zu geben. Allerdings konnten manche Zielgruppen, besonders aus multikulturellen Milieus oder in prekären Lebenslagen aus unserer Sicht nicht ausreichend einbezogen werden.
Auf der Tagung wurde nun die Frage intensiv diskutiert, welche Strukturen und Prozesse weitergehende Gestaltungsspielräume für die Zivilgesellschaft eröffnen und welche Aufgaben diese aufgrund fehlender Ressourcen und Zuständigkeiten auch ablehnen sollte. Kurz gesagt: Wo haben gerade Bewohner:innen das gute Recht, sich zunächst um ihre ganz naheliegenden Probleme und Herausforderungen zu kümmern – und Großprojekte, die erst in Dekaden Realität werden, links liegen zu lassen?